Komitees für Grundrechte und Demokratie
- Mai / Juni 2011

   
 

Ein Rückblick von Ahmed aus Palästina Im Schatten des Jasmin

 
     
 

(D.K.) Leser Norbert Harthun hat mir freundlicherweise einen Text zugesandt, den er dem Bericht über die Aktion Ferien vom Krieg im Sommer 2010 des Komitees für Grundrechte und Demokratie, Apuinostraße 7-11, 50670 Köln entnommen hat.

(Die Umwälzungen in Tunesien Anfang 2011 werden Jasmin-Revolution genannt)

Ich heiße Ahmed, bin 26 Jahre alt und mache gerade mein Praktikum als Arzt in einem palästinensischen Krankenhaus. Mein Leben war bisher voll von blindem Radikalismus, weit entfernt von jeglicher Menschlichkeit, ein Leben also wie das jedes palästinensischen Heranwachsenden, geprägt von Tod und Zerstörung als Folge der Besatzung.

Als ich überlegte, an den  ,Ferien vom Krieg' teilzunehmen, ließ mich der Gedanke nicht los: „Wie soll ich mir selbst erlauben, mit dem ewigen Feind meines Volkes zusammen zu sitzen, zu diskutieren und ihnen zuzuhören? Wie soll ich mit ihnen leben, essen und trinken? Sie haben meinen besten Freund getötet, viele meiner Verwandten ins Gefängnis gesteckt, unser Haus mit schwerer Artillerie beschossen und gestürmt. Sie halten mich täglich an Checkpoints fest!“ Dann dachte ich, daß es vielleicht eine sehr gute Gelegenheit sei, um dem Feind gegenüber meine Wut und meinen Hass zu äußern, mit ihm eine unblutige Schlacht der Worte zu führen, in der ich ebenso stark bin wie er. Wir werden unsere Feinde auf Augenhöhe treffen.

Bisher kannte ich nur Gesichter von Israelis, die die Macht der Besatzer ausdrücken. Als die jungen Israelis im Flughafen Frankfurt nur noch wenige Meter entfernt waren, überlegte ich, ob ich sie begrüßen sollte. Es war ein innerer Kampf zwischen meiner menschlichen Seite und meinem leidvollen Alltag, der mich zwang, meine Wut im Gesicht zu tragen. Ich streckte meine Hand aus und begrüßte sie mit einem Lächeln. Es war der Anfang meiner inneren Reise.

Die Atmosphäre im Bus war angespannt. Alle beobachteten sich gegenseitig. Plötzlich sagte eine der Frauen zu mir „Hi“. Es war das erste Mal, daß mich ein Israeli nett ansprach, ohne daß ich meinen Ausweis vorzeigen mußte. Ich nahm all meinen Mut zusammen und erwiderte ihren Gruß. Wir redeten über die lange Reise, über unser Leben, Studium und Arbeit. Ich fühlte, daß wir in verschiedenen Welten leben. Dann waren wir wirklich überrascht, daß wir Nachbarn sind. Ich stamme aus Tulkarem und sie aus Shar Afraim, das liegt nur wenige Kilometer entfernt, doch in der Realität sind es zwei abgeriegelte Welten.

Am Ziel angekommen, wollte keiner ausruhen. In der Lobby traf ich auf eine Gruppe, die gemeinsam zu einem kleinen See in der Nähe aufbrach. Während des Spaziergangs sprach mich Eitan, ein Israeli, an. Er hatte gehört, wie sie mich „Doktor“ nannten. Er studiert auch Medizin und erzählte vom Leben dort. Er sagte auch, daß er als Freiwilliger in einer Organisation arbeitet, die Palästinenser in abgelegenen Ortschaften medizinisch versorgt. Das Gespräch war am Anfang zögerlich, aber bald entwickelte sich unmerklich eine Freundschaft zwischen zwei Menschen. Ich spürte, daß sich in meinem Inneren etwas veränderte.

Als Roy mich fragte, ob wir gemeinsam zum Gästehaus zurückgehen wollten, stimmte ich gern zu. Ich spürte, daß ich diesen Menschen näher kennen lernen wollte. Er ist ein junger Mann, der nach Veränderung strebt. Unser Gespräch ließ mich alle Unterschiede zwischen uns vergessen. Wir redeten die ganze Zeit, lachten und erzählten uns persönliche Geschichten. Wir waren schon fast eine Stunde gelaufen und haben schließlich unsere Situation erkannt: Ein Palästinenser und ein Israeli haben sich im deutschen Wald verlaufen! Eine Ironie des Schicksals, wir sitzen beide im selben Boot, wir haben das selbe Problem. Es war wirklich eine unvergeßliche Erfahrung. Was für ein besonderer Tag in meinem Leben!

Ich ging in mein Zimmer und versuchte zu schlafen. Ohne Erfolg, nach diesem Tag voller Widersprüche. Als ich heute diesen Menschen näher kam, erinnerte ich mich an meinen Freund, der von ihnen getötet wurde, und an unser Haus, das von ihnen beschossen wurde. Ich fühlte mich zwischen diesen Erlebnissen und Gefühlen hin- und hergerissen.

Die Kennenlern-Spiele am ersten Tag haben Spannungen gelockert und uns menschlich näher gebracht. Aber alle warteten ungeduldig auf den nächsten Tag. Wir sind aufgeregt aufgewacht: Heute werden wir damit anfangen, über uns zu reden. Wir werden der anderen Seite Bilder unseres Alltags zeigen. Wir werden alles ins Gesicht unserer Besatzer schreien, ohne Angst, verhaftet zu werden. Unsere Worte sind unsere Waffen, wie auch unsere Vergangenheit, die voller Wunden ist. Hier in Deutschland sind wir alle gleich.

Im Seminarraum sollten wir zunächst über unsere Erwartungen und Ängste sprechen. Wir Palästinenser wollten aber gleich über unser Leid unter der Besatzung sprechen und über unsere Angst, die Situation nicht verändern zu können. Wir berichteten an diesem Tag und an den darauf folgenden über unsere Vergangenheit und Gegenwart, über die Besatzung, über unsere persönlichen Erfahrungen, über uns selbst, über alles was uns bewegt. Fida weinte, als sie über ihren getöteten Vater sprach, Samah weinte, als sie über ihr Auge und ihren getöteten Bruder sprach, wir weinten, die Israelis weinten, wir alle weinten. Nicht nur über die Toten, wir alle weinten, weil wir uns ein besseres Leben wünschen.

Manchmal stritten wir, manchmal lachten wir, wir waren aufgeregt und beruhigten uns wieder. Am Anfang dachten wir, daß wir einen Krieg führen, nach mehreren Sitzungen stellten wir fest, daß es in diesem Krieg weder Sieger noch Verlierer geben kann. Nach weiteren Sitzungen spürte ich, daß wir einen gemeinsamen Weg gingen, ohne zu wissen, wohin er uns führte. Zwischen uns entstand unmerklich eine starke menschliche Beziehung. Es war eine Beziehung von gegenseitigem Respekt.

Während unserer gemeinsamen Ausflüge nach Köln und Belgien waren wir alle gleich. Es gab keinen Unterschied zwischen uns. Tag für Tag spürte ich etwas in mir, was ich brechen mußte. Etwas kam immer näher, was ich mein ganzes Leben lang in mir gesucht hatte, mein Gefühl, daß ich ein Mensch bin. Dieses Friedensprojekt hat es geschafft, daß ich meine Menschlichkeit wieder neu entdeckte.

In der Abschlußrunde sprachen beide Seiten offen über die Vergangenheit und über ihre gegenwärtigen und zukünftigen Ängste. Es trennten uns weder Religion noch Nationalität in diesem Gespräch, wir überwanden alle Hindernisse. Wir stehen uns jetzt gegenüber, schauen uns in die Augen, betrachten uns lange, damit wir uns für immer in Erinnerung behalten und unsere neu gewonnene Humanität leben. Die Israelin Hedva schilderte, wie sie ihren Sohn nach ihrer Rückkehr erziehen wird, und unser israelischer Koordinator Shulti erzählte von seinem Sohn, der den Militärdienst in Israel verweigert.

Ich sprach über meine Liebe zu allen Anwesenden und über meine Dankbarkeit den Menschen gegenüber, die uns dieses Treffen ermöglichen. Ich sagte meiner Gruppe, daß sie mir etwas gegeben hat, das ich seit 25 Jahren suche: das Gefühl, ein Mensch zu sein. Ich sagte, daß ich vor nicht allzu langer Zeit ernsthaft darüber nachgedacht hatte, aus Wut den Checkpoint am Eingang unserer Stadt zu sprengen, um mich endlich frei bewegen zu können. „Jetzt will ich dieses Hindernis komplett abreißen, das mich daran hindert, zu euch zu gelangen“, sagte ich,, ja, ihr seid meine Freunde, ich möchte euch treffen und Hedvas Sohn umarmen, so wie ich die Kinder meiner Freunde in den Arm nehme.“

Wir versprachen uns, daß wir alle nach unserer Rückkehr etwas verändern wollten, und das, was wir hier in Deutschland erreicht hatten, bewahren und an unsere Mitmenschen weitergeben würden. Wir fühlten uns stark, auf einem Weg, der uns vereint für ein nobles, hohes Ziel: Die Veränderung, damit wir alle ohne Krieg und Besatzung in Frieden leben können. Welch einmaliges Erlebnis! Ich bin jetzt ein anderer, ein freier Mensch, frei von Radikalismus, frei von Nationalismus und Religion und voller Freude. Beim Abschied zeigten wir uns gegenseitig das Siegeszeichen, nicht um über die Anderen zu siegen, sondern um auf dem Weg der Veränderung zu siegen.

Einige Monate nach meiner Rückkehr hörte ich eine erschreckende Nachricht: Vier Israelis wurden in Hebron getötet, auch eine schwangere Frau. Obwohl ich die Besatzung hasse, fühlte ich eine tiefe Traurigkeit. Welche Schuld hat ein ungeborenes Kind?

Die Israelis konnten den Täter identifizieren und suchten nach ihm. Ich kenne diesen Mann. Warum hat er das getan? Hat er nicht an sein Leben gedacht? An seine Frau? An sein kleines Kind? Ich fühlte mich innerlich zerrissen. Was soll ich jetzt tun? Soll ich alle Veränderungen in mir vergessen? Nach einem Monat voller Grübeln erhielt ich die Nachricht, daß dieser Freund getötet wurde. Mich und mein ganzes Leben hat dieser neuerliche Schock erschüttert, und ich war sehr traurig über den Verlust eines Menschen, der mir nahe war. Als ich meinen ersten Freund verlor, hätte meine ungeheure Wut mich fast dazu geführt, etwas gegen die Besatzung zu unternehmen. Dieses Mal war meine Wut anders. Ich war zutiefst traurig über den Tod dieses Freundes, wie ich traurig gewesen war, als er dieses Attentat verübt hatte. Ich war überrascht über diese Veränderung meiner Gefühle. Heute trauere ich über jeden getöteten Menschen von beiden Seiten.

Jetzt bin ich überzeugt, daß das Treffen mit dem „Feind“ kein Verrat am Blut der Getöteten und meinem Volk ist. Nur so können wir verhindern, daß es noch mehr Tote, noch mehr Zerstörung und Vertreibung gibt. Denn Krieg zieht Krieg nach sich, Töten zieht Töten nach sich: Für ein Zusammenleben in Frieden und Gerechtigkeit ist die Befreiung von religiösem Fanatismus und Nationalismus der einzige Weg, der uns wie allen Menschen auf dieser Welt ein Leben in Freiheit und Würde ermöglicht.

 
     
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