Heinz Potthoff - Januar / Februar 2013

   
 
Wirtschaft und Kultur  
     
 

(D.K.) Der folgende Aufsatz hat die Zeitschrift Idee und Bewegung Nr. 100, Dezember 2012 der Festschrift „Freideutsche Jugend“, verlegt bei Eugen Diederichs, Jena 1913, entnommen.Träger- vererein für diese Zeitschrift Idee und Bewegung istdie Kulturinitiative 'lebendig leben' im Verein zur Förderung und Pflege aufbauenden Denkens und Handelns e.V., Gerhard Neudorf, Dorfstraße 2 B, 37318 Asbach-Sickenberg,  Gerhard@ Idee-und-Bewegung. de. Zusätzliche Informationen erhalten Sie unter http://www.kulturinitiative-lebendig-leben.de.   Über den Autor des Beitrages aus dem Jahr 1913, Heinz Potthoff, können wir leider keine Aussage machen. Es ist beachtlich, was 1913 alles an Erkenntnissen vorhanden waren. Die beiden schlimmen europäischen Bruderkriege  im vorigen Jahrhundert haben uns Deutsche in eine kulturelle Verwirrung gestürzt.

Die NEUE POLITIK bedankt sich bei Gerhard Neudorf  für die Abdrucker- laubnis.

 

Der Autor Heinz Potthoff ist einer der vielen Persönlichkeiten, die Grußworte zum Freideutschen Jugendtag 1913 schickten.

Worin ist die Generation von morgen der von heute überlegen? –
In erster Linie darin, daß sie zahlreicher ist. Unsere Väter in Deutschland waren vierzig Millionen, wir sind heute fünfundsechzig, unsere Kinder werden achtzig und neunzig Millionen sein.

Diese Steigerung der Volkszahl, diese Erweiterung des Lebensraumes ist die Großtat moderner Zivilisation, vor allem moderner Technik und Arbeitsorganisation.

Wer überhaupt das Leben bejaht, wird diesen Erfolg auf der Habenseite unseres Jahrhunderts verbuchen.

Und dazu noch ein anderes: Trotz der riesigen Steigerung der Volkszahl auf gleichbleibender Fläche sind die Lebensbedingungen eines jeden einzelnen im Durchschnitt besser geworden. Das deutsche Volk nährt sich heute besser als vor hundert Jahren, es kleidet sich besser, es wohnt besser (trotz allem Mietskasernenelendes); es ist im Durchschnitt der Massen gesunder und lebt länger; es ist auch besser ausgebildet, weiß mehr, steht geistig auf höherer Stufe ... ich glaube, wir machen uns nur schwer eine richtige Vorstellung von dem Elend und dem Stumpfsinn der hörigen Massen früher; denn was wir aus jener Zeit wissen, betrifft ausschließlich die Oberschicht der Machthabenden, Gebildeten, die noch dümmer waren als heute.

Diese optimistische Anschauung der Ent- wicklung darf uns natürlich nicht an schärfster Kritik des Bestehenden hindern und energischer Besserungsarbeit. Denn so erfreulich die heutigen Zustände sind im Vergleich zu früheren, so unbefriedigend, teilweise entsetzlich sind sie im Vergleich zu dem, was sein sollte und  könnte – und was deswegen geleistet werden muß.

Ich will hier nicht von unseren staatlichen Einrichtungen sprechen, nicht von den politischen und sozialen Streitfragen, die jahraus, jahrein in der öffentlichen Erörterung umgewälzt werden. Viel  bedeutsamer erscheint die Frage, ob wir überhaupt eine „Kultur“ besitzen.

Allgemein kann diese Frage natürlich nicht verneint werden. Aber noch weniger möchte ich sie zu bejahen wagen.

Denn wenn ich das Treiben der Mehrheit meiner Zeitgenossen ansehe (und mein eigenes dazu), dann steigt das Bedenken auf: wie viele von uns „besitzen“ denn wirklich etwas von den hohen Gütern innerer Kultur, die in reichster Fülle um uns aufgestapelt liegen?

Und wenn ich nach den neuen Kulturwerten suche, die den besonderen Lebensverhältnissen des zwanzigsten Jahrhunderts entwachsen sind, dann sehe ich wenig mehr als einzelne, bescheidene Ansätze, sehe auf der anderen Seite breite Abwege, auf denen die neuen Wirtschaftsbedingungen unsere Kultur entgleisen ließen.

Deswegen wage ich die Behauptung: uns modernen Menschen fehlt zur modernen Kultur noch fast alles!

Und wenn die letzte Generation die wirt- schaftlich-technischen Vorbedingungen einer neuen Menschheit geschaffen hat, eine auf Beherrschung der Naturkräfte gegründete Massenzivilisation, so steht vor dem kommenden Geschlechte die große Aufgabe, eine neue, soziale Kultur auf diesem geweiteten, bereicherten Boden zu bauen.

Das Ziel ist das alte: jedes einzelne Glied unseres Volkes zu einer tüchtigen, reifen, wertvollen  Persönlichkeit  zu machen und diese dann möglichst wirksam in den Dienst der Gesamtheit zu stellen.

Nur ist die Aufgabe heute eine ganz andere als zur Zeit Goethes, der uns das Wort vom „höchsten Glück der Erdenkinder“ geschenkt hat. Denn heute handelt es sich nicht mehr um eine Oberschicht von literarisch Interessier-ten, sondern um das deutsche Volk, das fünf-undsechzig Millionen zählt und demnächst achtzig Millionen zählen wird. Um ein Volk unter der Herrschaft des Kapitalismus, des Großbetriebes, der Arbeitsteilung, der Maschine, des Weltverkehrs, das zur Hälfte in Groß-städten gedrängt wohnt und zu drei Vierteln vom Lohne lebt.

Die Fülle der hieraus erwachsenden Probleme kann im Rahmen eines Aufsatzes auch nicht andeutungsweise erschöpft werden.  Nur auf eine Seite soll kurz eingegangen werden, die am unmittelbarsten mit den wirtschaftlichen Umwälzungen zusammenhängt und vielleicht das schwerste Hindernis neuen Kulturmenschentums darstellt.

Die Neuordnung unserer Arbeit zusammen mit der Neuordnung unserer Staatsauffassung hat den  Sinn  der  Arbeit  in das Gegenteil verkehrt. Als Bürger eines Verfassungsstaates können wir nicht der Sklavenmoral huldigen, wonach die Masse des Volkes arbeitet zu- gunsten der wenigen Bevorzugten. Aber wir haben auch nicht gelernt, wozu wir denn arbeiten – oder vielleicht haben wir es im Getöse des technischen Fortschritts verlernt.

Die Industrialisierung der Welt hat die Arbeitsmöglichkeit ins Unendliche erhöht. Es gibt kein Menschenleben und keine Lebensstunde, für die nicht eine gewinnbringende Beschäftigung vorhanden wäre. Und es gibt keinen Gewinn, der nicht genützt werden könnte.

Das hat dieses Hasten und Jagen in unser Leben gebracht, das uns um unser Leben bestiehlt. Die meisten Erwerbstätigen (und nicht nur die Armen, die Proletarier) sind zu Arbeitstieren geworden, deren höchste Sehnsucht ist, einige Wochen im Jahre „ausspannen“ zu können, um „Menschen“ zu sein. Beruf und Erwerb hat die Menschen so erfaßt, daß sie sich einbilden, darin läge des Lebens Zweck; daß sie sich und ihre Familie vernachlässigen über dem Berufe oder gar über dem Erwerbe; daß sie meinen, der Mensch lebe, um zu arbeiten oder gar um Geld zu verdienen – während doch Arbeit nur ein Mittel zum „Leben“ und Geldverdienen nur ein Umweg zu diesem Mittel ist. – Fachmenschen!

Die Arbeitszerlegung im Großbetriebe (in Gewerbe, Handel, Verwaltung u.a.) hat den Erfolg der Tätigkeit jedes einzelnen ungemein erhöht, zugleich aber jede einzelne Teilarbeit so einfach, so gleichförmig, so unselbständig, so sinnlos gemacht, daß ihre Verrichtung keine Befriedigung gewährt.

Und alle sozialen Einrichtungen werden nicht zu der damit erstrebten Zufriedenheit führen, wenn es nicht gelingt, den Menschen so viel Verständnis für die Zusammenhänge beizubringen, daß sie den Sinn und Wert ihrer Arbeit begreifen – damit sie  Freude  daran haben können. Solange das nicht geschieht, ist der größte Teil des Volkes während des größten Teils seines Daseins nur eine hämmernde oder feilende oder sägende Maschine, die „Lohn“ arbeitet – als ob Lohn ein Selbstzweck wäre.

Maschine und Großbetrieb sind unermüdlich darin, nicht nur den Menschen Arbeit abzunehmen, sondern auch diese Arbeit gleichmäßig zu machen.

Und der wachsende Verkehr treibt die gleichen Erzeugnisse über immer größere Räume. Wir stehen nicht mehr weit von dem Zustande, daß es für den Verbrauch der großen Masse über das ganze Land hin nur noch wenige „Typen“ gibt.

Dieses Ausscheiden alles Besonderen, Per- sönlichen aus dem Konsume beschränkt sich nicht auf rein materielle Dinge, sondern er- streckt sich auch auf die geistigen; es ist zu- gleich verbunden mit einer starken Über-macht der Produzenten, die den Konsum beherrschen.  Sie  machen die Moden, nach denen die Verbraucher sich richten.  Sie bestimmen, was die Millionen essen, wie sie sich kleiden, wie sie wohnen, was sie in der Zeitung lesen, was sie wissen und glauben.

Auch der Staat mit Schulpflicht, Wehrpflicht und manchem anderen trägt zu dieser Uniformierung des  ganzen  Lebens  bei, die es den einzelnen Menschen immer schwerer macht, Eigene zu sein statt Schablonenmenschen!

Die Übermacht der Produktion hat die be- denkliche Folge, daß diese als das Maßgebende angesehen wird. Alle unsere staatliche Wirtschaftspolitik ist Produzentenpolitik – und damit zugleich Rentenpolitik. Das Be- dürfnis der Getreideverkäufer und Viehzüchter steht vor dem Interesse der Brot und Fleisch essenden (oder nicht essenden) Millionen. Zugunsten der Zuckererzeuger wurde das Saccharin wie ein gefährliches Gift verboten. Und wenn die Chemie uns heute billiges künstliches Brot brächte, so würde es voraussichtlich mit schwersten Strafen verfolgt werden. Auch unser Urheber- und Patentrecht wird beherrscht vom Interesse derer, die in der Verwertung von neuen Gedanken ihr Geld werbend anlegen.

Das geht so weit, daß ohne Rücksicht auf den Bedarf produziert wird. In der gewerblichen Tätigkeit werden alle Hebel in Be- wegung gesetzt, um den Bedarf zu erweitern, neue Bedürfnisse zu wecken, weil deren Befriedigung Gewinn verheißt. Das Mißverhältnis des Produzierens zur kauf-kräftigen Nachfrage führt von Zeit zu Zeit Wirtschaftskrisen herbei.

Auf geistigem Gebiete, in Kunst und Wissenschaft merkt man solche Krisen nicht, hier besteht ein ständiges Mißverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage. Die Hälfte unserer geistigen Produktion ist im Grunde ziemlich wertlos, weil sie kein aufnehmendes Publikum findet. -  Als ob der Mensch auf der Welt wäre, um gewisse landwirtschaftliche und gewerbliche Erzeugnisse  zu verzehren (und zu bezahlen)! Oder als ob ein großer Gedanke, ein Gedicht, ein Bild an sich Wert besäße. Den wirklichen Wert verleiht ihm doch erst der Mensch, der genießt!

Was uns zur sozialen Kultur fehlt, sind Konsumenten für die Kulturgüter, die in überreichem Maße vorhanden sind und in einer den geringen Bedarf weit überstei-genden Menge geschaffen werden.

Eine Folge der geschilderten Umstände ist es auch, daß wir mit dem Worte „Arbeit“ fast ausschließlich den Begriff der Erwerbstätigkeit verbinden. Nützliche, wertvolle Arbeit scheint uns nur noch Berufsarbeit zum Geldverdienen. Nur diese Arbeit wird von der amtlichen Statistik gezählt; nur an sie knüpfen sich die Erörterungen.

Beide vergessen, daß ein ungeheurer Teil der menschlichen Arbeit immer noch unentgeltlich, unberuflich, vom Verbraucher selbst im eigenen Hause, geleistet wird. Und doch ist das die schönste und die wertvollste Arbeit. Das muß vor allem zu Ehren der Hausfrauen gesagt werden, deren Tätigkeit von der heutigen Generation nicht genügend gewertet wird. Es ist eine böse Entgleisung unserer Frauenbewegung, daß sie den Kampf für die Menschenrechte der Frau verknüpfte mit einer Verachtung der häuslichen Frauenarbeit; daß sie glaubte, Frauenwert und Frauenkultur zu heben mit dem Hinausdrängen der Frau aus der Hauswirtschaft in das Geldverdienen.

Als ob Tütenkleben und Prozesseführen sozial nützlicher sein könnte als Kinderpflegen! Als ob nicht im Haushalte, in der Regelung des Konsumes, das wichtigste Stück des wirtschaftlichen Kreislaufes läge! Als ob nicht die Heranziehung der künftigen Generation das wichtigste und verantwortlichste Stück Volksarbeit wäre!

Der Himmel bewahre uns vor dem folgenschweren Mißgriffe, etwa nur den erwerbstätigen Frauen Bürgerrechte zu verleihen. Denn was wir in Staats- und Gesellschaftsleitung brauchen, sind gerade die anderen: die Hausfrauen und die Mütter, die noch nicht verlernt haben, daß der Mensch die Hauptsache ist.
Der Mensch ißt, um zu leben. Aber nicht seine Lebens- und Konsumbedürfnisse sind maßgebend für unsere materielle und ideelle  Produktion, sondern die Erwerbsinteressen der Produzenten. Die Produktion wird vom Profit beherrscht, einerlei, mit welchen Kosten er gewonnen wird. Ob Ewigkeits- gedanken oder Schundliteratur, ob Lebensgüter oder Volksgifte, alles gilt uns gleich. Weder Kanonen- noch Alkoholfabrikation, weder Opiumimport noch Talmivertrieb noch sonst eine vom Strafgesetzbuche nicht verbotene Erwerbsart vermindert die Achtung vor dem damit verdienten Reichtume.

Wer fragt nach denen, die am Konsum der Güter zugrunde gegangen sind! Und nach denen, die bei der Herstellung zugrunde gehen! Wenn wir von der Rentabilität eines Unternehmens sprechen, meinen wir nur die Zinsen, die das Sachkapital darin bringt; fragen wir nicht nach den Menschen, die darin arbeiten. Und doch sind sie das wichtigste „Kapital“, das der Unternehmer für sich arbeiten läßt, ein Kapital, das ihn nichts kostet, das die Volksgemeinschaft ihm kostenlos zur Verfügung stellt im Arbeitsvertrage, und das er ihm zurückgeben kann, wenn es ihm paßt – wenn er es ausgenutzt hat.
Die Aufzucht unserer fünfundsechzig Millionen Menschen in Deutschland hat vielleicht tausend Milliarden Mark gekostet, das ist dreimal so viel als alle Sachgüter, die man als Volksvermögen zu zählen pflegt. Und diesen ungeheuren Reichtum stellt das Volk den wirtschaftlich Mächtigen zur Ausbeute frei, ohne die nötigen Sicherheitsmaßregeln dafür, daß er rationell verwendet wird.

Im Gegenteil: da der Unternehmer nur an der gegenwärtigen, nicht an der künftigen Leistungsfähigkeit des jederzeit kündbaren Arbeiters interessiert ist, da die staatliche Sozialpolitik noch in den Anfängen steckt, so wird mit menschlicher Arbeitskraft und Gesundheit ein schrecklicher  Raubbau getrieben.

Das ist der schlimmste Fehler unserer Zeit, daß sie tut, als wäre der Mensch ein Ding, das im Überfluß vorhanden und wertlos sei.

Mit Menschenökonomie muß alle Reformarbeit beginnen.

Der Gedanke, daß der Mensch selbst In- halt und Zweck aller staatlichen und ge- sellschaftlichen Ordnung ist; daß es für Staat und Gesellschaft kein höheres Ziel geben kann und geben darf, als recht viele gesunde, leistungsfähige, aber auch arbeitsfrohe, glückliche Menschen zu vereinen: dieser Gedanke muß beherrschend werden. Dann werden wir von den Abwegen, deren einige hier angedeutet sind, auf richtige Bahnen gesunder Entwicklung kommen.

Die jüngste Vergangenheit hat die Vorbedingungen für eine neue, auf breiteste Grundlage gestellte Volkskultur gegeben. Diese soziale Kultur zu schaffen, ist die Aufgabe der nächsten Zukunft und ihrer Jugend.

 
     
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